Irma Rybnikova: Zwischen Deutschland und Litauen bestehen möglicherweise erhebliche Unterschiede darin, wie das Promotionsstudium abläuft. Könnten Sie uns erzählen, wie in Litauen promoviert wird?
Dalia Dambrauskienė: Das Doktorstudium kann sowohl von einzelnen Universitäten als auch von Universitätskooperationen bzw. kooperierenden Forschungsinstituten durchgeführt werden. Ich selbst absolviere ein solches gemeinsames Doktorandenprogramm mehrerer Universitäten. Promotionsinteressierte nehmen an einem Wettbewerb teil. Wenn sie ausgewählt werden, erstellen sie einen individuellen Arbeitsplan für ihr Doktorstudium, der die einzelnen Etappen, Forschungsmethoden und Fristen vorsieht. Das Promotionsstudium umfasst mindestens 30 Credits. Jedes Semester stellen Promotionsstudierende ihren Zwischestand dem Promotionskommitte vor, einer Gruppe hochrangiger Forschender, die für den Inhalt, die Qualität, die Organisation und die Durchführung des Doktorstudiums verantwortlich sind. Promotionsstudierende haben eine Promotionsbetreuerin oder einen Promotionsbetreuer; das sind Forscherinnen und Forscher, die den Anforderungen der Promotionsordnung genügen und die Doktorarbeiten leiten. Der Doktorgrad kann an eine Person vergeben werden, die in Vollzeit (bis zu 4 Jahren) oder in Teilzeit (bis zu 6 Jahren) das Promotionsstudium erfolgreich abgeschlossen, sowie eine Dissertation vorbereitet und verteidigt hat. Als eine Kann-Voraussetzung ist auch ein Forschungspraktikum an einer ausländischen Forschungs- und Studieneinrichtung von mindestens drei Monaten.
Irma Rybnikova: Warum haben Sie sich bei Ihrem Forschungspraktikum für die HSHL entschieden?
Dalia Dambrauskienė: Es war meine Überzeugung, dass es sich lohnt, an einer ausländischen Universität neue wissenschaftliche und gemeinsame kulturelle Erfahrungen zu sammeln. Laut statistischen Angaben ist Deutschland eines der Länder, die von Doktorstudierenden in Litauen am häufigsten für ihr Forschungspraktikum ausgewählt werden. Forscherinnen und Forscher der Universität Šiauliai empfahlen mir auch eine Universität in Deutschland, und zwar HSHL und Professorin Irma Rybnikov als Expertin für qualitative Forschung und Mitarbeiterführung.
Irma Rybnikova: Lassen Sie uns nun über Ihre Forschungsarbeit sprechen: Was ist das Thema Ihrer Dissertation, warum haben Sie sie ausgewählt und wie kommen Sie damit voran?
Dalia Dambrauskienė: Das Thema meiner Dissertation lautet "Implementierung verteilter Führung in den Institutionen vorschulischer Erziehung". Dieses Thema ist vor allem in der Praxis von Bildungseinrichtungen relevant, deren Führungskräfte angehalten werden, ihre Führungsmacht zu teilen und Mitarbeitende, aber auch Eltern und Kinder an Entscheidungen zu beteiligen und auf diese Weise Demokratie in Organisationen zu leben. Nationale Bildungsdokumente Litauens legen verteilte Führung in Bildungsinstitutionen nahe; das seit zehn Jahren in Litauen durchgeführte Projekt "Leadership Time" entwickelt Führungskräfte, die die Idee der verteilten Führung unterstützen. Ich nahm auch am Projekt "Leaders 'Time" teil, in dem ich mein Masterstudium in Bildungsmanagement abschloß. In der Bildungspraxis hingegen haben Leiterinnen und Leiterg von Bildungsinstitutionen allerdings oft erhebliche Schwierigkeiten, verteilte Führung in ihren Organisationen umzusetzen. Ich habe persönlich Leitungserfahrungen in mehreren verschiedenen Bildungseinrichtungen und musste feststellen, dass verteilte Führung nicht in jeder Gemeinde einfach und unkompliziert ist. Daher wollte ich das Phänomen der verteilten Führung aus wissenschaftlicher Sicht analysieren. Das gestaltet sich allerdings nicht einfach, weil in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema verteilte Führung im Bildungssektor verfasst wurden, so dass es eine große Herausforderung ist, Informationen zu verwalten und Wichtiges zu selektieren.
Irma Rybnikova: Was sind weitere große Herausforderungen bei der Arbeit an einer Dissertation?
Dalia Dambrauskienė: Ich denke, das Schreiben einer Dissertation stellt viele Doktorstudierende vor erhebliche Herausforderungen. Erstens ist es ein riesiger Informationsfluss, der manchmal unüberschaubar ist. Hier nicht verloren zu gehen und den Neuheitswert der eigenen Arbeit zu finden, ist nicht einfach. Eine Herausforderung für mich besteht auch darin, meine Berufspraxis (in Vollzeit) mit dem Doktorstudium zu verbinden. Abende, Wochenenden und Feiertage müssen dem Doktorstudium und dem Schreiben der Dissertation gewidmet sein. Für mich ist das Doktorstudium eine Zeit hoher Arbeitsbelastung. Ich bin froh, dass meine Familie, Ehemann und Kinder, mich sehr dabei unterstützen und mich oft auch von Haushaltssorgen befreien.
Irma Rybnikova: Wie findet die Forschung während einer Pandemie statt? Denken Sie, dass ein Doktorstudium auch komplett im online-Modus absolviert werden könnte?
Dalia Dambrauskienė: Da das Verfassen von Dissertationen eine Einzelarbeit mit seltenen Konsultationen ist, gibt es keinen großen Unterschied in der Forschung während einer Pandemie. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, das ganze empirische Material (Interviews, Fokusgruppendiskussionen, Beobachtungen von Besprechungen usw.) kurz vor Beginn der Pandemie abzuschließen. Für weitere wissenschaftliche Arbeiten benötigt man lediglich einen Computer, Internet und eine Verbindung zu wissenschaftlichen Datenbanken. Ich habe das alles sowohl in Litauen als auch hier in Deutschland. Ich denke, dass das Doktorstudium unter Umständen auch nur online stattfinden könnte. Besser wäre es jedoch, online- und Präsenzkommunikation zu kombinieren.